Rente: Versicherungsfremde Leistungen

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Die Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung aus Steuermitteln explodieren

Infolgedessen müssen verschiedene Maßnahmen in Betracht gezogen werden, wie etwa die erneute Erhöhung der Lebensarbeitszeit der Angestellten, die Anhebung der Rentenbeiträge oder eine prozentuale Senkung der Rentenhöhe. Diese Schritte sind notwendig, da aufgrund der demografischen Veränderungen in unserem umlagefinanzierten Rentensystem immer weniger Beitragszahler auf immer mehr Leistungsempfänger kommen.

So wird es zumindest oft behauptet...

Andere, wahrscheinlich weitaus gravierendere Ursachen für die schlechte Kassenlage der Rentenversicherung, werden jedoch nur selten thematisiert. Vermutlich sind sie den meisten zukünftigen, aktuellen und ehemaligen Arbeitnehmern zumindest im Ausmaß nicht bekannt.

Eine dieser Ursachen hängt tatsächlich mit den Zuschüssen zusammen, deren Höhe, Einsatz und Herkunft man allerdings genauer betrachten muß.

Eine interessante Stellungnahme

Die Rentner verdanken ihre Rente ihrer eigenen Arbeitsleistung. Einen Teil ihres Lohnes haben sie in Form von Beiträgen an die Rentenversicherung abgeführt und sich so den Anspruch auf lohnbezogene Rente erarbeitet. [...]

Derzeit leistet der Staat einen Zuschuß an die Rentenausgaben von rund 18 Prozent. Die versicherungsfremden Leistungen der Rentenversicherungsträger werden jedoch von Fachleuten auf ein Drittel der Rentenausgaben geschätzt. Es ist also ganz anders als aus der populären Stammtischperspektive: Nicht der Staat greift der Rentenversicherung unter die Arme, sondern der Staat ist der Kostgänger der Versicherten. [...]

Eine schärfere Rechnungstrennung zwischen Fremd- und Versicherungsleistungen bringt das Parlament auch in stärkeren Rechtfertigungszwang. Fremdaufgaben, die der Gesetzgeber aus Nützlichkeitserwägungen der Rentenversicherung überträgt, müssen von der staatlichen Finanzierung begleitet werden. Wenn das staatliche Geld fehlt, kann auch keine Erhöhung beschlossen werden. [...]

am 14.12.1979 in Reform ohne Illusionen - Die Alterssicherung muß wieder kalkulierbar werden aus "Die Zeit 51/1979"

und eine weitere

Die verschiedenen Säulen der Sozialversicherung sind trotz unterschiedlicher Reformbemühungen in den vergangenen Jahren durchzogen von versicherungsfremden Leistungen.

Jedwede Leistung (oder Verschonung), die nicht der Verwirklichung des Versicherungszwecks dient oder vom Versicherungsprinzip abweicht, wird als „versicherungsfremde Leistung“ angesehen. [...]

Die Kassen der Sozialversicherungen werden dadurch belastet und es entstehen Schattenhaushalte, da diese Leistungen eigentlich aus dem (Bundes-)Haushalt zu finanzieren wären. Sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer und Arbeitgeber tragen damit finanzielle Lasten, die an sich von der Gemeinschaft der Steuerzahler zu erbringen sein müssten. Diese Kosten drücken sich in höheren Beiträgen oder Leistungskürzungen an anderer Stelle aus. Die verfassungsrechtlich festgeschriebene Schuldenbremse darf aber zudem nicht zu einer Verlagerung von Aufgaben und Kosten in die Sozialversicherungen führen.

Soweit versicherungsfremde Leistungen aufgrund des Sachzusammenhangs oder zur Vermeidung von Bürokratie von den Sozialversicherungsträgern erbracht werden sollen, sind die Kosten vollständig aus dem Bundeshaushalt auszugleichen. Hierzu ist zunächst eine strukturelle Überprüfung des Leistungsspektrums für versicherungsfremde Leistungen durchzuführen, die bisher aus Steuermitteln noch nicht voll ausfinanziert sind.

In der Folge ist eine gesetzliche Verankerung des Äquivalenzprinzips in den Sozialversicherungen in Form einer regelmäßigen Angleichung von Bundesmitteln und versicherungsfremden Leistungen erforderlich.

Dieser Ausgleich ist künftig nicht als „Bundeszuschuss“, sondern als „Erstattung“ zu bezeichnen, da es sich nicht um einen Zuschuss zu den Kernleistungen der Sozialversicherungen handelt, sondern um eine Erstattung von versicherungsfremden Leistungen. [...]

Die versicherungsfremden Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung sind im Wesentlichen ausgabenseitig:
Hierzu gehören beispielsweise Ersatzzeiten, Renten nach dem Fremdrentengesetz, Anrechnungszeiten, die Höherbewertung der Berufsausbildung und der Sachbezugszeiten, die Rente nach Mindesteinkommen und abschlagsfreie Renten vor Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters (z. B. „Rente mit 63“). Auch die Hinterbliebenenrente und die Anrechnung von Kindererziehungszeiten sind dazu zu zählen. Gleiches gilt für Renten aus Versicherungszeiten der ehemaligen DDR und die Ghetto-Renten.

Beschluss des Bundesvorstandes der FDP vom 14.11.2016

Was bedeutet das?

Den politischen Entscheidern ist also bewußt, dass ein großer Anteil gesamtgesellschaftlicher Aufgaben aus den Beiträgen der Versicherten finanziert wird. Ein erheblicher Teil der Versicherungsbeiträge wird somit zweckentfremdet und kommt nicht ihrem eigentlichen Zweck zugute.

Die steuerlichen Zuschüsse "zur Rentenversicherung" decken nur einen Teil der Kosten dieser versicherungsfremden Leistungen ab. So müsste entweder die Erstattung wesentlich höher ausfallen oder diese Leistungen dürften nicht mehr von der Rentenversicherung getragen werden. Weiterhin dienen diese "Zuschüsse" nicht der Finanzierung der eigentlichen Rentenleistungen der beitragszahlenden Versicherten, sondern sind lediglich eine Teilerstattung der Kosten gesamtgesellschaftlicher Aufgaben, die von allen gleichermaßen getragen werden müssten.

Die Kritik an den zu hohen "Zuschüssen in die Rentenversicherung" lenkt von der tatsächlichen Situation ab. Diese Gelder gehen nicht nur nicht in die regulären durch Versichertenbeiträge gedeckten Leistungen an deren Beitragszahler ein; stattdessen werden die Beitragszahlungen an die Kasse sogar um den Fehlbetrag gekürzt (durchschnittlich etwa 100 € Beitrags-, bzw. 160 € Bruttorentenkürzung pro Person und Monat).

Dass ausgerechnet - im Gegensatz zu z.B. den üppigen und beitragsfreien Altersversorgungen von Beamten und Abgeordneten - die Beiträge der regulären Rentenbeitragszahler dafür herhalten müssen Haushaltslücken zu schließen, ist nur durch Unwissenheit aufgrund von Intransparenz zu erklären.

Mitglieder freier und eher einkommensstarker Berufe, wie Ärzte und Rechtsanwälte müssen ebenfalls nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, also auch keinen Eingriff in ihre entsprechenden Altersvorsorgesysteme hinnehmen.

Praktisch alle Parteien haben immer wieder eine Korrektur angemahnt, nur um - wenn in Regierungsverantwortung - genau das Gegenteil davon zu bewirken.

Das mag auch daran liegen, dass die im Bundestag überproportional vertretenen Berufsgruppen wie Rechtsanwälte und Beamte, sowie die im Vergleich sehr große zusätzliche und beitragsfreie Altersversorgung für Abgeordnete, und deren Kosten oder Verschonung einen Interessenkonflikt darstellen.

Anmerkung: Die Steuerzuschüsse "zur Rentenversicherung" selbst werden natürlich auch von Arbeitnehmern und Rentnern mitfinanziert. Sie fließen zudem auch in andere Rentensysteme als die gesetzliche Rentenversicherung ein.

Der Fehlbetrag der Zuschüsse zu den versicherungsfremden Leistungen ist gigantisch

Die nach ihrem Autor, dem ADG e.V. Mitglied Otto Teufel benannte und jährlich aktualisierte "Teufel-Tabelle" besagt, dass 2023 der Betrag von 1000 Milliarden Euro an seit 1957 entnommenen, zweckentfremdeten und nicht erstatteten Rentenversicherungsbeiträgen überschritten wurde. Es muss dabei betont werden, dass diese unvorstellbare Summe aufgrund der Umlagefinanzierung der Rentversicherung nach heutigem Wert betrachtet um ein vielfaches höher wäre. Allein im Jahre 2023 betrug der Fehlbetrag über 42 Milliarden Euro.

Mit der Übertragung der Verantwortung für die gesetzliche Rentenversicherung 1955 (siehe weiter unten "Chronik der Deutschen Rentenversicherung") wurde, wie in den Beispielen der Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu sehen ist, implizit legitimiert, dass die gesetzliche Rentenversicherung stark von politischen Entscheidungen geprägt ist und weniger durch die verfassungsrechtlichen Schutzrechte der Beitragszahler begrenzt wird.

Anmerkung: Bei der Abgrenzung der versicherungsfremden Leistungen gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen. Der Verband deutscher Rentenversicherungsträger hat sie jedoch als alle Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung definiert, die nicht in vollem Umfang durch Beiträge gedeckt sind. Dies war auch die Auffassung der meisten oder aller hier zitierten Personen.

Weitere Stellungnahmen zum politischen Versagen

Die Verwischung der Grenzen bei der Sozialversicherung schafft die Schlupflöcher für Manipulationen aller Art. Für den Gesetzgeber ist es sehr bequem, Reformen zu beschließen und die finanziellen Lasten von den Versicherten bezahlen zu lassen. Eine saubere Trennung von solidarischer Sozialversicherung und allgemeiner Fürsorge würde die Sozialpolitiker nämlich einem stärkeren Rechtfertigungszwang unterwerfen und damit mehr Klarheit in die Finanzierung bringen. Doch gerade das ist oft unerwünscht.

Für die Sozialversicherung wäre es deshalb ein Segen, wenn sie dem Gutdünken des Gesetzgebers entzogen würde. Die Selbstverwaltung müßte endlich auch die notwendige Selbstverantwortung erhalten. Dann könnten die Betroffenen selber entscheiden, wieviel Eigenleistung sie für wieviel Gegenleistung erbringen wollen. Nur so wären sie vor staatlicher Willkür sicher. Nur eine Entstaatlichung der Sozialpolitik schafft neue Spielräume für die Selbstverwaltung.

am 27.03.1981 in Weniger Staat in der Sozialpolitik aus "Die Zeit 14/1981"

Ich halte drei Orientierungspunkte für wichtig:

  1. Erstens, die Beitragsbezogenheit der Rente; das ist die Voraussetzung dafür, daß die Rentner das Bewußtsein haben können, einen Alterslohn für ihre Lebensarbeit zu erhalten und kein Almosen.
  2. Zweitens, daß die Renten steigen wie die verfügbaren Einkommen; dies macht deutlich, daß die Rentenversicherung eine Gemeinschaftseinrichtung der Generationen ist. [...]
  3. Drittens müssen Bundeszuschuß und Versicherungsleistung sauber getrennt werden. Wenn der Staat der Rentenversicherung neue Aufgaben gibt, muß er auch das Geld dafür beschaffen – und wenn er es nicht hat, darf er sich auch nicht als Wohltäter aufspielen.

am 01.04.1983 in Ich heiße Blüm, nicht Herkules - Gespräch mit Arbeitsminister Blüm über die Kürzungen im Sozialetat aus "Die Zeit 14/1983"
ZEIT (Wolfgang Hoffmann): Leider ist die selbstverdiente Rente längst nicht mehr so sicher, wie Sie immer glauben machen wollen. Sie kürzen doch Jahr für Jahr.
Blüm: Wenn das stimmt, müßten die Ausgaben ja sinken. Tatsächlich steigen sie.
ZEIT: Aber nur, weil Sie der Rentenversicherung versicherungsfremde Leistungen aufbürden, etwa für die neuen Bundesländer und für das Fremdrentengesetz.
Blüm: Zu einer Reform, wie ich sie mir vorstelle, gehört auch eine schärfere Trennung zwischen Aufgaben, die durch Beiträge finanziert werden, und solchen, für die alle Steuerzahler zuständig sind. [...]
Es gibt andere Sozialversicherungszweige, wo die Finanzierungsfrage dringend ist. Ich denke zum Beispiel, daß die Beitragszahler in der Arbeitslosenversicherung nicht für Umschulung und Fortbildung aufkommen müssen - das ist Teil der allgemeinen Bildungspolitik. Ohne Umfinanzierung versicherungsfremder Leistungen werden auch die Einschränkungen nicht akzeptiert.
ZEIT: Für diese Umfinanzierung hatten Sie vierzehn Jahre Zeit.
Blüm: Wir fangen auch nicht heute damit an.
ZEIT: Nun sparen Sie und fordern gleichzeitig die Jungen auf, sich schon heute mehr um ihr Alter zu kümmern. Entziehen Sie der lohnbezogenen Rente nicht selbst die Basis?
Blüm: Gerechtigkeit beginnt nicht erst auf der Ausgabenseite.
Wir sparen auch, um die jungen Beitragszahler zu entlasten. Würden wir nicht sparen, würden wir das System unterminieren. Die Rentenversicherung hat im übrigen nie den Anspruch erhoben, alle Fragen der Alterssicherung zu lösen. [...]
So kommt es, daß 10 Prozent der Bevölkerung die Hälfte der Vermögen besitzen, 25 weitere Prozent ein Drittel und die große Mehrheit den kleinen Rest. Je breiter wir Eigentum streuen, desto leichter können wir die kollektiven Systeme entlasten.
Wenn mein Freund von den Milliardenerbschaften spricht, die den Rentnererben ins Haus stehen, vergißt er, daß diese Erbschaften höchst ungleichgewichtig verteilt sind. Die Hälfte der Rentnerhaushalte hat nämlich überhaupt kein Vermögen.
am 28.06.1996 in Ich bin nicht der Baggerführer des Abbruchs aus "Die Zeit 27/1996"

Zwischenbilanz

Der Umgang mit der Verwendung von Beiträgen für versicherungsfremde Leistungen, die eigentlich für die Altersabsicherung der Versicherten vorgesehen sind, werden durchaus auch von der Politik und Rechtsprechung als problematisch wahrgenommen. Anhand des Beispiels von , dem man seinerzeit durchaus gute Absichten unterstellen durfte, kann man erkennen, dass deren Umsetzung offensichtlich über vier Legislaturperioden nicht möglich war und dies bis heute und egal für welche Regierungskonstellation danach, weiterhin gilt.
So stellt nach Ende seiner Amtszeit als Bundesminister für Arbeit und Soziales in einem sehr lesenswerten Essay nur noch fest: "Doch allmählich und fast unbemerkt verschieben sich in der aktuellen sozialpolitischen Diskussion in Deutschland die Gewichte von der Sozialversicherung zur Sozialfürsorge." (Die Zeit, 07.09.2006)
Die soziale Ungleichheit in Deutschland hat seitdem weiter zugenommen. Die größte Bevölkerungsgruppe, welche ihr Einkommen aus Arbeit finanzieren muss(te), hat nicht nur international gesehen sehr hohe Abgaben. Da ihre Versicherungsbeiträge zu einem Teil auch noch Haushaltslücken schließen müssen ist die Altersabsicherung nur noch ein kleiner Bruchteil dessen, was beispielsweise ein pensionierter Beamter - ohne jemals eigene Beiträge gezahlt zu haben - erhält.
Hingegen werden großzügige Regelungen für leistungslose Einkommen und Großvermögen, ebenso wie Diäten und Beamtenbezüge, bis heute nicht für diese Zwecke angetastet; im Gegenteil: Privilegien für diese Gruppen wurden und werden ausgebaut.

Renten und Rentenanwartschaften sind Eigentumspositionen. Stellen Sie sich vor, andere Eigentumsarten, etwa Grundbesitz oder Kapitalvermögen, würden einfach weggeschmolzen. Was gäbe das für ein Geschrei! Das Verfassungsgericht hat mit Nachdruck betont, das Sozialstaatsgebot verkörpere "in umfassender Weise die Idee der sozialen Gerechtigkeit, die nach dem Selbstverständnis der freiheitlichen Demokratie als leitendes Prinzip aller staatlichen Maßnahmen gilt".

Das Sozialrecht dient nach allgemeiner Auffassung der Menschenwürde, also dem höchsten Wert unserer Verfassungsordnung. Wir können solche Sätze doch nicht mit Pathos sagen, ohne daraus rechtserhebliche Konsequenzen herzuleiten. Ich bin überzeugt, daß eine Aushöhlung der Renten auch politisch nicht durchsetzbar wäre. Daraus entstünden Konflikte in solchem Ausmaß, daß sie den Standort Deutschland sehr viel mehr gefährden würden als alles, was heute als Gefährdung des Standorts Deutschland so laut beklagt wird.

(ehemaliger Verfassungsrichter) am 22.11.1996 in Mangel muß solidarisch bewältigt werden aus "Die Zeit 48/1996"

Gefährdung des Standorts Deutschland

Es ist nicht klar, ob mit der "Gefährdung" die Demokratie an sich, den sozialen Frieden, den Untergang der ehemaligen Volksparteien (keine Partei hatte bei der Bundestagswahl 2021 auch nur 20% der Stimmen aller Wahlberechtigten erreicht, Nichtwähler waren die stärkste "Partei"), oder etwas anderes wie beispielsweise den wirtschaftlichen Standort meinte (Stichwort: "Lohnnebenkosten"). Jedoch sah er vermutlich ein Auseinanderlaufen von den Zielen der Politik und der Lebenswirklichkeit des Großteils der Bevölkerung (inkl. der von diesen abhängigen Personen), und deren Auswirkungen auf den Standort Deutschland.
zeit (Elisabeth Niejahr): Wenn Sie Beamte und Selbstständige in die Rentenversicherung zwingen, ändern sie an den Zukunftsproblemen der Sozialsysteme wenig. Neue Mitglieder erwerben schließlich neue Ansprüche.
Göring-Eckardt: Dabei geht es auch eher um die Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Teilen der Bevölkerung. Beamte, Angestellte, Selbstständige sollen gleichermaßen beteiligt werden. Wir wollen eine Bürgerversicherung für alle, die übrigens auch vorteilhaft für Selbstständige mit kleinen Einkommen wäre, die sich heute oft nicht ausreichend für das Alter absichern.
zeit: Im Wahlkampf hat Joschka Fischer betont, der Sozialstaat müsse anders finanziert werden: weniger durch Abgaben auf die Löhne, stärker durch Steuern. Welche Steuern wollen Sie dafür erhöhen?
Göring-Eckardt: Gar keine. Das Einzige, worüber wir reden, ist eine Weiterentwicklung der Ökosteuer. Im Übrigen halte ich aber wenig von so einer Umfinanzierung. Ich bin froh, dass beispielsweise unser Gesundheitssystem nicht vom Staat, sondern aus Beitragsmitteln bezahlt wird. Sonst bestünde bei jeder Haushaltskrise die Gefahr, dass wichtige Leistungen gekürzt und rationiert würden. Ich halte nichts davon, aus dem Rentensystem auszubrechen nach dem Motto: Der Staat zahlt eine Grundversorgung, alles andere wird durch private kapitalgedeckte Systeme finanziert.
am 07.09.2002 in Wir meinen es ernst aus "Die Zeit 46/2002"
Offensichtlich gibt es bei den Grünen verschiedene Ansichten darüber wie die Rentenversicherung (oder die versicherungsfremden Leistungen?) finanziert werden sollen. Einigkeit scheint aber darüber zu herrschen, dass sich alle Berufsgruppen gleichermaßen beteiligen sollen ("Bürgerversicherung").
Wie gut es für Rentner und gesetzlich Krankenversicherte ist, dass die den Versicherungen aufgetragene Verantwortung nicht ausreichend aus Steuermitteln finanziert wird, sondern Beiträge entwendet werden ist angesichts niedriger Renten und Zwei-Klassen-Medizin fraglich. Zudem haben wir längst den Zustand "Grundversorgung" mit Zwang zur zusätzlichen privaten Absicherung, die sich aber die Masse der Arbeiter und Angestellten nicht mehr leisten kann und deren Transparenz und Ergebnisse für die wenigen, die es konnten, mehr als mangelhaft sind.

Fazit

Die Erhebung einer Sondersteuer gleichkommenden Zweckentfremdung von Versicherungsbeiträgen der Arbeiter und Angestellten ist eine Tatsache. Diese entspricht ca. zweieinhalb (nach anderen Meinungen sogar bis zu drei) Beitragsjahren. Bevor also über weitere Verlängerungen der Arbeitszeit, Senkungen des Rentenniveaus und / oder Erhöhungen der Beitragssätze debattiert wird, müssen zunächst die versicherungsfremden Leistungen in voller Höhe aus Steuermitteln getragen werden oder besser diese Leistungen aus der Verantwortung der Rentenversicherung herausgenommen werden.

Nun wird gern - und vollkommen irreführend - darauf hingewiesen, dass eine komplette Übernahme der versicherungsfremden Leistungen aus Steuermitteln ja trotzdem zu Lasten der Versicherten gehen würde, jedoch ist das eine Frage der Verteilung der Steuerlast. Vorteile wären

  • Einbeziehung aller Bürger und damit auch Gleichstellung der Rechte aller Bürger
  • Transparenz und Anerkennung der Rente als Eigenleistung in einer unabhängigen selbstverwalteten Kasse, statt Andeutungen von Mißbrauch von Steuergeldern zugunsten "unangemessen hoher" Renten
  • Lohnnebenkostensenkung
  • Neue Konzepte für eine gerechtere Besteuerung oder Haushaltsgestaltung werden zwingend

Dies mag zu einem höheren Einkommenssteuersatz für alle führen, aber angesichts der Tatsache, dass Angestellte und Arbeiter bereits die höchste Abgabenlast aller Berufsgruppen tragen (und auch im internationalen Vergleich "ganz oben" dabei sind), können Regierungen hier nicht unbemerkt weiter auspressen, sondern sind gezwungen Alternativen zu suchen und / oder besser zu haushalten, um (wieder)gewählt zu werden.

Chronik der Deutschen Rentenversicherung: Entwicklung und wichtige Entscheidungen

22.06.1889 Reichstag und Bundesrat verabschieden das "Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung".
01.01.1891 Die Invaliditäts- und Altersversicherung tritt als erste staatliche Rentenversicherung für Arbeiter in Kraft. Die Verwaltung erfolgt durch neu gegründete Landesversicherungsanstalten.
01.01.1911 Das Versicherungsgesetz für Angestellte (VGfA) schafft mit der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte eine eigenständige Rentenversicherung für Angestellte. Parallel tritt die Reichsversicherungsordnung (RVO) in Kraft, die das Arbeiterrentenrecht neu ordnet.
1914-1923 Der Erste Weltkrieg und die anschließende Hyperinflation führen zu massiven Verlusten der Rentenversicherungsvermögen durch Kriegsanleihen und Geldentwertung.
1933-1945 Das NS-Regime zentralisiert die Sozialversicherung und nutzt deren Vermögen erneut für Kriegsfinanzierung. Bei Kriegsende sind die Rücklagen weitgehend aufgezehrt.
1955 Das Kriegsfolgenschlussgesetz regelt die endgültige Enteignung der Rentenversicherungsträger. Als Ausgleich wird in Artikel 120 GG die Garantie der Leistungsfähigkeit durch Bundesmittel festgeschrieben.
1957 Die große Rentenreform führt das dynamische Umlageverfahren mit Rücklagenbildung ein. Die Renten werden an die Lohnentwicklung gekoppelt ("Produktivitätsrente"). Gleichzeitig erfolgt eine deutliche Anhebung des Rentenniveaus.
1969 Die Rentenversicherung wechselt zum reinen Umlageverfahren. Die bisherige Rücklagenbildung wird aufgegeben. Der Bundeszuschuss sinkt in den Folgejahren auf unter 20 Prozent.
22.12.1970 Das "Gesetz über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung" überträgt die Kosten für Entschädigungsleistungen auf die Rentenversicherung. Die Finanzierung erfolgt aus Beitragsmitteln.
21.09.1972 Die Rentenreform führt die flexible Altersgrenze ein: Versicherte können nach 35 Versicherungsjahren bereits ab 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen. Zusätzlich wird die Rente nach Mindesteinkommen eingeführt.
17.12.1973 Das Deutsch-Israelische Abkommen über Soziale Sicherheit ermöglicht israelischen Staatsangehörigen eine rückwirkende Versicherung in der deutschen Rentenversicherung ab 1957.
01.01.1974 Die Angestelltenversicherung wird gesetzlich verpflichtet, für Defizite der Arbeiterrentenversicherung zu haften. Dies markiert den Beginn der Liquiditätshilfen zwischen den Versicherungszweigen.
09.10.1975 Das Deutsch-Polnische Rentenabkommen tritt in Kraft. Es regelt die rentenrechtliche Gleichstellung polnischer Staatsangehöriger mit deutschen Versicherten nach dem Fremdrentengesetz bei Wohnsitznahme in der Bundesrepublik.
01.07.1977 Das 20. Rentenanpassungsgesetz führt erstmals zu deutlichen Leistungseinschränkungen und Beitragserhöhungen aufgrund der sich verschlechternden Finanzlage der Rentenversicherung.
01.01.1983 Die Einführung eines Krankenversicherungsbeitrags für Rentner soll die Rentenversicherung finanziell entlasten. Rentner müssen erstmals einen eigenen Beitrag zur Krankenversicherung leisten.
01.01.1989 Der Bundestag beschließt die Rentenreform 1992. Sie sieht unter anderem die Umstellung der Rentenanpassung von der Brutto- auf die Nettolohnentwicklung vor.
18.05.1990 Der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion regelt die Überführung der DDR-Rentenversicherung in das bundesdeutsche System. Alle Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR werden eingegliedert, während die Vermögenswerte der DDR-Sozialversicherung in den Bundeshaushalt fließen.
22.04.1992 Das Entschädigungsrentengesetz regelt die Leistungen zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Verfolgte im Beitrittsgebiet. Die Kosten werden der Rentenversicherung übertragen.
23.06.1994 Das 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz tritt in Kraft. Es regelt den rentenrechtlichen Ausgleich für berufliche Benachteiligungen durch politische Verfolgung in der DDR.
28.10.1994 Das Bundesverfassungsgericht weist eine Verfassungsbeschwerde zur Verwendung von Beiträgen für versicherungsfremde Leistungen ab. Das Gericht stellt fest, dass Mitglieder eines öffentlich-rechtlichen Zwangsverbands kein grundrechtlich geschütztes Kontrollrecht über die Mittelverwendung haben.
01.07.1997 Das Berufliche Rehabilitierungsgesetz erweitert den rentenrechtlichen Ausgleich für Opfer politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet. Die Kosten trägt die Rentenversicherung.
21.07.1998 Das Bundesverfassungsgericht bestätigt die Rechtmäßigkeit der Überführung von DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssystemen in die gesetzliche Rentenversicherung unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie.
20.06.2002 Das Ghetto-Rentengesetz (ZRBG) tritt in Kraft. Es ermöglicht Rentenzahlungen für Arbeit in einem Ghetto während der NS-Zeit. Die Finanzierung erfolgt aus Beitragsmitteln der Rentenversicherung.
27.02.2007 Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert die Grenzen gesetzgeberischer Eingriffe in bestehende Rentenanwartschaften: Änderungen sind unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes und der Eigentumsgarantie möglich.
31.01.2008 Das Bundessozialgericht spricht Frauen in berufsständischen Versorgungswerken einen Anspruch auf Kindererziehungszeiten gegen die gesetzliche Rentenversicherung zu, sofern ihre Versorgungswerke keine vergleichbaren Leistungen vorsehen.
20.07.2009 Das Bundesverfassungsgericht bestätigt die Verfassungsmäßigkeit der Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben durch die Rentenversicherung, fordert aber eine angemessene Beteiligung des Bundes an den Kosten.
01.07.2014 Das RV-Leistungsverbesserungsgesetz führt die "Mütterrente" ein. Die zusätzlichen Kindererziehungszeiten werden nur teilweise aus Steuermitteln finanziert.
01.01.2019 Die "Mütterrente II" erweitert die Kindererziehungszeiten erneut. Die Mehrkosten von jährlich 3,8 Milliarden Euro werden überwiegend aus Beitragsmitteln finanziert.
01.01.2021 Der Bundeshaushalt übernimmt erstmals explizit ausgewiesene versicherungsfremde Leistungen in Höhe von 2 Milliarden Euro zusätzlich zum allgemeinen Bundeszuschuss.
16.12.2021 Die neue Bundesregierung kündigt im Koalitionsvertrag an, die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen stärker aus Steuermitteln sicherzustellen. Der Deutschen Rentenversicherung wird mehr Flexibilität bei der Kapitalanlage in Aussicht gestellt.

Versionen

Version 1.0.4 vom 22.12.2024 - Kleinere Korrekturen
Version 1.0.0 vom 25.11.2024 - Erste Fassung

Quellen


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