Die Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung aus Steuermitteln explodieren
Infolgedessen müssen verschiedene Maßnahmen in Betracht gezogen werden, wie etwa die erneute Erhöhung
der Lebensarbeitszeit der Angestellten, die Anhebung der Rentenbeiträge oder eine prozentuale Senkung
der Rentenhöhe. Diese Schritte sind notwendig, da aufgrund der demografischen Veränderungen in unserem
umlagefinanzierten Rentensystem immer weniger Beitragszahler auf immer mehr Leistungsempfänger kommen.
So wird es zumindest oft behauptet...
Andere, wahrscheinlich weitaus gravierendere Ursachen für die schlechte Kassenlage der
Rentenversicherung,
werden jedoch nur selten thematisiert.
Vermutlich sind sie den meisten zukünftigen, aktuellen und ehemaligen Arbeitnehmern
zumindest im Ausmaß nicht bekannt.
Eine dieser Ursachen hängt tatsächlich mit den Zuschüssen zusammen, deren Höhe, Einsatz und Herkunft man
allerdings genauer betrachten muß.
Eine interessante Stellungnahme
Die Rentner verdanken ihre Rente ihrer eigenen Arbeitsleistung. Einen Teil ihres Lohnes haben
sie in
Form von Beiträgen an die Rentenversicherung abgeführt und sich so den Anspruch auf lohnbezogene
Rente erarbeitet. [...]
Derzeit leistet der Staat einen Zuschuß an die Rentenausgaben von rund 18 Prozent. Die
versicherungsfremden Leistungen der Rentenversicherungsträger werden jedoch von Fachleuten auf
ein
Drittel der Rentenausgaben geschätzt. Es ist also ganz anders als aus der populären
Stammtischperspektive: Nicht der Staat greift der Rentenversicherung unter die Arme, sondern der
Staat ist der Kostgänger der Versicherten. [...]
Eine schärfere Rechnungstrennung zwischen Fremd- und Versicherungsleistungen bringt das
Parlament
auch in stärkeren Rechtfertigungszwang. Fremdaufgaben, die der Gesetzgeber aus
Nützlichkeitserwägungen der Rentenversicherung überträgt, müssen von der staatlichen
Finanzierung
begleitet werden. Wenn das staatliche Geld fehlt, kann auch keine Erhöhung beschlossen werden.
[...]
Die verschiedenen Säulen der Sozialversicherung sind trotz unterschiedlicher Reformbemühungen in
den vergangenen Jahren durchzogen von versicherungsfremden Leistungen.
Jedwede Leistung (oder Verschonung), die nicht der Verwirklichung des Versicherungszwecks dient
oder vom Versicherungsprinzip abweicht, wird als „versicherungsfremde Leistung“ angesehen.
[...]
Die Kassen der Sozialversicherungen werden dadurch belastet und es entstehen Schattenhaushalte,
da diese Leistungen eigentlich aus dem (Bundes-)Haushalt zu finanzieren wären.
Sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer und Arbeitgeber tragen damit finanzielle Lasten, die
an sich von der
Gemeinschaft der Steuerzahler zu erbringen sein müssten. Diese Kosten drücken sich in höheren
Beiträgen oder Leistungskürzungen an anderer Stelle aus. Die verfassungsrechtlich
festgeschriebene
Schuldenbremse darf aber zudem nicht zu einer Verlagerung von Aufgaben und Kosten in die
Sozialversicherungen führen.
Soweit versicherungsfremde Leistungen aufgrund des Sachzusammenhangs oder zur Vermeidung
von Bürokratie von den Sozialversicherungsträgern erbracht werden sollen, sind die Kosten
vollständig aus dem Bundeshaushalt auszugleichen. Hierzu ist zunächst eine strukturelle
Überprüfung des
Leistungsspektrums für versicherungsfremde Leistungen durchzuführen, die bisher aus
Steuermitteln
noch nicht voll ausfinanziert sind.
In der Folge ist eine gesetzliche Verankerung des Äquivalenzprinzips in den Sozialversicherungen
in
Form einer regelmäßigen Angleichung von Bundesmitteln und versicherungsfremden Leistungen
erforderlich.
Dieser Ausgleich ist künftig nicht als „Bundeszuschuss“, sondern als „Erstattung“ zu bezeichnen,
da es
sich nicht um einen Zuschuss zu den Kernleistungen der Sozialversicherungen handelt, sondern um
eine Erstattung von versicherungsfremden Leistungen.
[...]
Die versicherungsfremden Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung sind im Wesentlichen
ausgabenseitig:
Hierzu gehören beispielsweise Ersatzzeiten, Renten nach dem Fremdrentengesetz,
Anrechnungszeiten, die Höherbewertung der Berufsausbildung und der Sachbezugszeiten, die Rente
nach Mindesteinkommen und abschlagsfreie Renten vor Erreichen des gesetzlichen
Renteneintrittsalters (z. B.
„Rente mit 63“). Auch die Hinterbliebenenrente und die Anrechnung von Kindererziehungszeiten
sind dazu zu zählen. Gleiches gilt für Renten aus
Versicherungszeiten der ehemaligen DDR und die
Ghetto-Renten.
Den politischen Entscheidern ist also bewußt, dass ein großer
Anteil gesamtgesellschaftlicher Aufgaben
aus den Beiträgen der Versicherten finanziert wird.
Ein erheblicher Teil der Versicherungsbeiträge wird somit zweckentfremdet und kommt
nicht ihrem eigentlichen Zweck zugute.
Die steuerlichen Zuschüsse "zur Rentenversicherung" decken nur einen Teil der Kosten dieser
versicherungsfremden Leistungen ab. So müsste entweder die Erstattung wesentlich höher
ausfallen oder diese Leistungen dürften nicht mehr von der Rentenversicherung getragen werden.
Weiterhin dienen diese "Zuschüsse" nicht der
Finanzierung der eigentlichen Rentenleistungen der beitragszahlenden Versicherten, sondern sind
lediglich eine Teilerstattung der Kosten gesamtgesellschaftlicher Aufgaben, die von allen
gleichermaßen getragen werden müssten.
Die Kritik an den zu hohen "Zuschüssen in die Rentenversicherung" lenkt von der tatsächlichen
Situation ab. Diese Gelder gehen nicht nur nicht in die regulären durch
Versichertenbeiträge gedeckten Leistungen an deren Beitragszahler ein;
stattdessen werden die Beitragszahlungen an die Kasse sogar um den Fehlbetrag gekürzt
(durchschnittlich etwa 100 € Beitrags-, bzw. 160 € Bruttorentenkürzung pro Person und
Monat).
Dass ausgerechnet - im Gegensatz zu z.B. den üppigen und beitragsfreien Altersversorgungen
von Beamten und Abgeordneten - die Beiträge der regulären Rentenbeitragszahler dafür herhalten
müssen Haushaltslücken zu schließen, ist nur durch Unwissenheit aufgrund von
Intransparenz zu erklären.
Mitglieder freier und eher einkommensstarker Berufe, wie Ärzte und Rechtsanwälte müssen
ebenfalls nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, also auch keinen Eingriff
in ihre entsprechenden Altersvorsorgesysteme hinnehmen.
Praktisch alle Parteien haben immer wieder eine Korrektur angemahnt, nur um - wenn in
Regierungsverantwortung - genau das Gegenteil davon zu bewirken.
Das mag auch daran liegen, dass die im Bundestag überproportional vertretenen Berufsgruppen wie
Rechtsanwälte und Beamte, sowie die im Vergleich sehr große zusätzliche und beitragsfreie
Altersversorgung für Abgeordnete, und deren Kosten oder Verschonung einen Interessenkonflikt
darstellen.
Anmerkung: Die Steuerzuschüsse "zur Rentenversicherung" selbst werden natürlich auch von
Arbeitnehmern und Rentnern mitfinanziert. Sie fließen zudem auch in andere Rentensysteme als
die gesetzliche Rentenversicherung ein.
Der Fehlbetrag der Zuschüsse zu den versicherungsfremden Leistungen ist gigantisch
Die nach ihrem Autor, dem ADG e.V. Mitglied Otto Teufel benannte und
jährlich aktualisierte
"Teufel-Tabelle"
besagt, dass 2023 der Betrag von 1000 Milliarden Euro an seit 1957 entnommenen,
zweckentfremdeten und nicht erstatteten Rentenversicherungsbeiträgen überschritten wurde.
Es muss dabei betont werden, dass diese unvorstellbare Summe aufgrund der
Umlagefinanzierung der Rentversicherung nach heutigem Wert betrachtet um ein
vielfaches höher wäre. Allein im Jahre 2023 betrug der
Fehlbetrag über 42 Milliarden Euro.
Mit der Übertragung der Verantwortung für die gesetzliche Rentenversicherung 1955 (siehe
weiter unten "Chronik der Deutschen Rentenversicherung") wurde, wie in den Beispielen der
Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu sehen ist, implizit legitimiert, dass die gesetzliche
Rentenversicherung stark von politischen Entscheidungen geprägt ist und weniger durch die
verfassungsrechtlichen Schutzrechte der Beitragszahler begrenzt wird.
Anmerkung: Bei der Abgrenzung der versicherungsfremden Leistungen
gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen.
Der Verband deutscher Rentenversicherungsträger hat sie jedoch als alle Leistungen der gesetzlichen
Rentenversicherung definiert, die nicht in vollem Umfang durch Beiträge gedeckt sind.
Dies war auch die Auffassung der meisten oder aller hier zitierten Personen.
Weitere Stellungnahmen zum politischen Versagen
Die Verwischung der Grenzen bei der Sozialversicherung schafft die Schlupflöcher für
Manipulationen
aller Art. Für den
Gesetzgeber ist es sehr bequem, Reformen zu beschließen und die finanziellen Lasten von den
Versicherten bezahlen zu lassen.
Eine saubere Trennung von solidarischer Sozialversicherung und allgemeiner Fürsorge würde die
Sozialpolitiker nämlich einem
stärkeren Rechtfertigungszwang unterwerfen und damit mehr Klarheit in die Finanzierung bringen.
Doch gerade das ist oft unerwünscht.
Für die Sozialversicherung wäre es deshalb ein Segen, wenn sie dem Gutdünken des Gesetzgebers
entzogen würde.
Die Selbstverwaltung müßte endlich auch die notwendige Selbstverantwortung erhalten. Dann
könnten die
Betroffenen selber
entscheiden, wieviel Eigenleistung sie für wieviel Gegenleistung erbringen wollen. Nur so wären
sie vor
staatlicher Willkür sicher.
Nur eine Entstaatlichung der Sozialpolitik schafft neue Spielräume für die Selbstverwaltung.
Erstens, die Beitragsbezogenheit der Rente; das ist die Voraussetzung
dafür, daß die Rentner das Bewußtsein haben können, einen Alterslohn
für ihre Lebensarbeit zu erhalten und kein Almosen.
Zweitens, daß die Renten steigen wie die verfügbaren Einkommen;
dies macht deutlich, daß die Rentenversicherung eine
Gemeinschaftseinrichtung der Generationen ist.
[...]
Drittens müssen Bundeszuschuß und Versicherungsleistung sauber
getrennt werden. Wenn der Staat der Rentenversicherung neue
Aufgaben gibt, muß er auch das Geld dafür beschaffen – und wenn er
es nicht hat, darf er sich auch nicht als Wohltäter aufspielen.
ZEIT (Wolfgang Hoffmann): Leider ist die selbstverdiente Rente
längst nicht mehr so sicher, wie Sie immer glauben
machen wollen. Sie kürzen doch Jahr
für Jahr.
Blüm: Wenn das stimmt, müßten die Ausgaben ja sinken. Tatsächlich
steigen sie.
ZEIT: Aber nur, weil Sie der Rentenversicherung versicherungsfremde
Leistungen aufbürden, etwa
für die neuen Bundesländer
und für das Fremdrentengesetz.
Blüm: Zu einer Reform, wie ich sie mir vorstelle, gehört auch eine
schärfere Trennung zwischen Aufgaben, die durch Beiträge
finanziert werden, und solchen, für die alle Steuerzahler zuständig sind. [...]
Es gibt andere Sozialversicherungszweige, wo die Finanzierungsfrage dringend ist. Ich denke zum
Beispiel, daß
die Beitragszahler in der Arbeitslosenversicherung nicht für Umschulung und Fortbildung
aufkommen müssen - das ist Teil der
allgemeinen Bildungspolitik. Ohne Umfinanzierung versicherungsfremder Leistungen werden auch die
Einschränkungen nicht akzeptiert.
ZEIT: Für diese Umfinanzierung hatten Sie vierzehn Jahre Zeit.
Blüm: Wir fangen auch nicht heute damit an.
ZEIT: Nun sparen Sie und fordern gleichzeitig die Jungen auf, sich
schon heute mehr um ihr Alter zu kümmern. Entziehen Sie der lohnbezogenen Rente nicht selbst die
Basis?
Blüm: Gerechtigkeit beginnt nicht erst auf der Ausgabenseite.
Wir sparen auch, um die jungen Beitragszahler zu entlasten. Würden wir nicht sparen, würden wir
das System unterminieren. Die Rentenversicherung hat im übrigen nie den Anspruch erhoben, alle
Fragen der Alterssicherung zu lösen. [...]
So kommt es, daß 10 Prozent der Bevölkerung die Hälfte der
Vermögen besitzen, 25 weitere Prozent ein Drittel und die große Mehrheit den kleinen Rest. Je
breiter wir Eigentum streuen, desto
leichter können wir die kollektiven Systeme entlasten.
Wenn mein Freund von den Milliardenerbschaften spricht, die den
Rentnererben ins Haus stehen, vergißt er, daß
diese Erbschaften höchst ungleichgewichtig verteilt sind. Die Hälfte der Rentnerhaushalte hat
nämlich überhaupt kein Vermögen.
Der Umgang mit der Verwendung von Beiträgen für versicherungsfremde Leistungen, die eigentlich
für die Altersabsicherung der Versicherten vorgesehen sind, werden durchaus auch von der Politik
und Rechtsprechung als problematisch wahrgenommen. Anhand des Beispiels von
,
dem man seinerzeit durchaus gute Absichten unterstellen durfte, kann man erkennen, dass deren
Umsetzung offensichtlich über vier Legislaturperioden nicht möglich war und dies bis heute und
egal für welche Regierungskonstellation danach, weiterhin gilt.
So stellt nach Ende seiner Amtszeit als Bundesminister für Arbeit
und Soziales in einem sehr lesenswerten Essay nur noch fest:
"Doch allmählich und fast unbemerkt verschieben sich in der aktuellen sozialpolitischen
Diskussion in Deutschland die Gewichte von der Sozialversicherung zur Sozialfürsorge."
(Die Zeit, 07.09.2006)
Die soziale Ungleichheit in Deutschland hat seitdem weiter zugenommen. Die größte
Bevölkerungsgruppe, welche ihr Einkommen aus Arbeit finanzieren muss(te),
hat nicht nur international gesehen sehr hohe Abgaben. Da ihre Versicherungsbeiträge zu einem
Teil auch noch Haushaltslücken schließen müssen ist die Altersabsicherung nur noch ein
kleiner Bruchteil dessen, was beispielsweise ein pensionierter Beamter - ohne jemals
eigene Beiträge gezahlt zu haben - erhält.
Hingegen werden großzügige Regelungen für leistungslose Einkommen und Großvermögen, ebenso
wie Diäten und Beamtenbezüge, bis heute nicht für diese Zwecke angetastet; im Gegenteil:
Privilegien für diese Gruppen wurden und werden ausgebaut.
Renten und Rentenanwartschaften sind Eigentumspositionen. Stellen Sie sich vor, andere
Eigentumsarten, etwa Grundbesitz oder Kapitalvermögen, würden einfach
weggeschmolzen. Was gäbe das für ein Geschrei! Das Verfassungsgericht hat mit
Nachdruck betont, das Sozialstaatsgebot verkörpere "in umfassender Weise die Idee
der sozialen Gerechtigkeit, die nach dem Selbstverständnis der freiheitlichen
Demokratie als leitendes Prinzip aller staatlichen Maßnahmen gilt".
Das Sozialrecht dient nach allgemeiner Auffassung der Menschenwürde, also dem höchsten Wert
unserer Verfassungsordnung. Wir können solche Sätze doch nicht mit Pathos sagen,
ohne daraus rechtserhebliche Konsequenzen herzuleiten. Ich bin überzeugt, daß eine
Aushöhlung der Renten auch politisch nicht durchsetzbar wäre. Daraus entstünden
Konflikte in solchem Ausmaß, daß sie den Standort Deutschland sehr viel mehr
gefährden würden als alles, was heute als Gefährdung des Standorts Deutschland so
laut beklagt wird.
Es ist nicht klar, ob mit der "Gefährdung" die
Demokratie an sich, den sozialen Frieden, den Untergang der ehemaligen
Volksparteien (keine Partei hatte bei der Bundestagswahl 2021 auch nur 20% der Stimmen
aller Wahlberechtigten erreicht, Nichtwähler waren die stärkste "Partei"), oder etwas
anderes wie beispielsweise den wirtschaftlichen Standort meinte (Stichwort: "Lohnnebenkosten").
Jedoch sah er vermutlich ein Auseinanderlaufen von den Zielen der Politik und der
Lebenswirklichkeit des Großteils der Bevölkerung (inkl. der von diesen abhängigen Personen),
und deren Auswirkungen auf den Standort Deutschland.
zeit (Elisabeth Niejahr): Wenn Sie Beamte und Selbstständige in die
Rentenversicherung zwingen, ändern sie an den
Zukunftsproblemen der
Sozialsysteme wenig. Neue Mitglieder erwerben schließlich neue Ansprüche.
Göring-Eckardt: Dabei geht es auch eher um die Gerechtigkeit
zwischen verschiedenen Teilen der
Bevölkerung. Beamte,
Angestellte, Selbstständige sollen gleichermaßen beteiligt werden. Wir wollen eine
Bürgerversicherung für alle, die übrigens auch
vorteilhaft für Selbstständige mit kleinen Einkommen wäre, die sich heute oft nicht ausreichend
für das Alter absichern.
zeit: Im Wahlkampf hat Joschka Fischer betont, der Sozialstaat
müsse anders finanziert werden:
weniger durch Abgaben auf die
Löhne, stärker durch Steuern. Welche Steuern wollen Sie dafür erhöhen?
Göring-Eckardt: Gar keine. Das Einzige, worüber wir reden, ist eine
Weiterentwicklung der Ökosteuer. Im Übrigen halte ich aber
wenig von so einer Umfinanzierung. Ich bin froh, dass beispielsweise unser Gesundheitssystem
nicht vom Staat, sondern aus
Beitragsmitteln bezahlt wird. Sonst bestünde bei jeder Haushaltskrise die Gefahr, dass wichtige
Leistungen gekürzt und rationiert
würden. Ich halte nichts davon, aus dem Rentensystem auszubrechen nach dem Motto: Der Staat
zahlt eine Grundversorgung,
alles andere wird durch private kapitalgedeckte Systeme finanziert.
Offensichtlich gibt es bei den Grünen verschiedene Ansichten darüber wie die Rentenversicherung
(oder die versicherungsfremden Leistungen?) finanziert werden sollen. Einigkeit scheint aber
darüber
zu herrschen, dass sich alle Berufsgruppen gleichermaßen beteiligen sollen
("Bürgerversicherung").
Wie gut es für Rentner und gesetzlich Krankenversicherte ist, dass die den Versicherungen
aufgetragene Verantwortung nicht ausreichend aus Steuermitteln finanziert wird, sondern Beiträge
entwendet werden ist angesichts niedriger Renten und Zwei-Klassen-Medizin fraglich. Zudem haben
wir längst den Zustand "Grundversorgung" mit Zwang zur zusätzlichen privaten Absicherung, die
sich
aber die Masse der Arbeiter und Angestellten nicht mehr leisten kann und deren Transparenz und
Ergebnisse für die wenigen, die es konnten, mehr als mangelhaft sind.
Fazit
Die Erhebung einer Sondersteuer gleichkommenden Zweckentfremdung von
Versicherungsbeiträgen der Arbeiter und Angestellten ist eine Tatsache. Diese entspricht ca.
zweieinhalb
(nach anderen Meinungen sogar bis zu drei) Beitragsjahren. Bevor also über weitere
Verlängerungen der
Arbeitszeit, Senkungen des Rentenniveaus und / oder Erhöhungen der Beitragssätze debattiert
wird,
müssen zunächst die versicherungsfremden Leistungen in voller Höhe aus Steuermitteln getragen
werden
oder besser diese Leistungen aus der Verantwortung der Rentenversicherung herausgenommen werden.
Nun wird gern - und vollkommen irreführend - darauf hingewiesen, dass eine komplette Übernahme
der
versicherungsfremden Leistungen aus Steuermitteln ja trotzdem zu Lasten der Versicherten gehen
würde, jedoch ist das eine Frage der Verteilung der Steuerlast. Vorteile wären
Einbeziehung aller Bürger und damit auch Gleichstellung der Rechte aller Bürger
Transparenz und Anerkennung der Rente als Eigenleistung in einer unabhängigen
selbstverwalteten Kasse, statt Andeutungen von Mißbrauch von Steuergeldern
zugunsten "unangemessen hoher" Renten
Lohnnebenkostensenkung
Neue Konzepte für eine gerechtere Besteuerung oder Haushaltsgestaltung werden zwingend
Dies mag zu einem höheren Einkommenssteuersatz für alle führen, aber angesichts der Tatsache,
dass Angestellte und Arbeiter bereits die höchste Abgabenlast aller Berufsgruppen tragen
(und auch im internationalen Vergleich "ganz oben" dabei sind), können Regierungen hier nicht
unbemerkt weiter auspressen, sondern sind gezwungen Alternativen zu suchen und / oder besser zu
haushalten, um (wieder)gewählt zu werden.
Chronik der Deutschen Rentenversicherung: Entwicklung und wichtige Entscheidungen
22.06.1889
Reichstag und Bundesrat verabschieden das "Gesetz betreffend die Invaliditäts- und
Altersversicherung".
01.01.1891
Die Invaliditäts- und Altersversicherung tritt als erste staatliche Rentenversicherung für Arbeiter
in Kraft. Die Verwaltung erfolgt durch neu gegründete Landesversicherungsanstalten.
01.01.1911
Das Versicherungsgesetz für Angestellte (VGfA) schafft mit der Reichsversicherungsanstalt für
Angestellte eine eigenständige Rentenversicherung für Angestellte. Parallel tritt die
Reichsversicherungsordnung (RVO) in Kraft, die das Arbeiterrentenrecht neu ordnet.
1914-1923
Der Erste Weltkrieg und die anschließende Hyperinflation führen zu massiven Verlusten der
Rentenversicherungsvermögen durch Kriegsanleihen und Geldentwertung.
1933-1945
Das NS-Regime zentralisiert die Sozialversicherung und nutzt deren Vermögen erneut für
Kriegsfinanzierung. Bei Kriegsende sind die Rücklagen weitgehend aufgezehrt.
1955
Das Kriegsfolgenschlussgesetz regelt die endgültige Enteignung der Rentenversicherungsträger. Als
Ausgleich wird in Artikel 120 GG die Garantie der Leistungsfähigkeit durch Bundesmittel
festgeschrieben.
1957
Die große Rentenreform führt das dynamische Umlageverfahren mit Rücklagenbildung ein. Die Renten
werden an die Lohnentwicklung gekoppelt ("Produktivitätsrente"). Gleichzeitig erfolgt eine deutliche
Anhebung des Rentenniveaus.
1969
Die Rentenversicherung wechselt zum reinen Umlageverfahren. Die bisherige Rücklagenbildung wird
aufgegeben. Der Bundeszuschuss sinkt in den Folgejahren auf unter 20 Prozent.
22.12.1970
Das "Gesetz über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung"
überträgt die Kosten für Entschädigungsleistungen auf die Rentenversicherung. Die Finanzierung
erfolgt aus Beitragsmitteln.
21.09.1972
Die Rentenreform führt die flexible Altersgrenze ein: Versicherte können nach 35 Versicherungsjahren
bereits ab 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen. Zusätzlich wird die Rente nach Mindesteinkommen
eingeführt.
17.12.1973
Das Deutsch-Israelische Abkommen über Soziale Sicherheit ermöglicht israelischen Staatsangehörigen
eine rückwirkende Versicherung in der deutschen Rentenversicherung ab 1957.
01.01.1974
Die Angestelltenversicherung wird gesetzlich verpflichtet, für Defizite der
Arbeiterrentenversicherung zu haften. Dies markiert den Beginn der Liquiditätshilfen zwischen den
Versicherungszweigen.
09.10.1975
Das Deutsch-Polnische Rentenabkommen tritt in Kraft. Es regelt die rentenrechtliche Gleichstellung
polnischer Staatsangehöriger mit deutschen Versicherten nach dem Fremdrentengesetz bei Wohnsitznahme
in der Bundesrepublik.
01.07.1977
Das 20. Rentenanpassungsgesetz führt erstmals zu deutlichen Leistungseinschränkungen und
Beitragserhöhungen aufgrund der sich verschlechternden Finanzlage der Rentenversicherung.
01.01.1983
Die Einführung eines Krankenversicherungsbeitrags für Rentner soll die Rentenversicherung finanziell
entlasten. Rentner müssen erstmals einen eigenen Beitrag zur Krankenversicherung leisten.
01.01.1989
Der Bundestag beschließt die Rentenreform 1992. Sie sieht unter anderem die Umstellung der
Rentenanpassung von der Brutto- auf die Nettolohnentwicklung vor.
18.05.1990
Der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion regelt die Überführung der
DDR-Rentenversicherung in das bundesdeutsche System. Alle Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der
DDR werden eingegliedert, während die Vermögenswerte der DDR-Sozialversicherung in den
Bundeshaushalt fließen.
22.04.1992
Das Entschädigungsrentengesetz regelt die Leistungen zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen
Unrechts für Verfolgte im Beitrittsgebiet. Die Kosten werden der Rentenversicherung übertragen.
23.06.1994
Das 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz tritt in Kraft. Es regelt den rentenrechtlichen Ausgleich für
berufliche Benachteiligungen durch politische Verfolgung in der DDR.
28.10.1994
Das Bundesverfassungsgericht weist eine Verfassungsbeschwerde zur Verwendung von Beiträgen für
versicherungsfremde Leistungen ab. Das Gericht stellt fest, dass Mitglieder eines
öffentlich-rechtlichen Zwangsverbands kein grundrechtlich geschütztes Kontrollrecht über die
Mittelverwendung haben.
01.07.1997
Das Berufliche Rehabilitierungsgesetz erweitert den rentenrechtlichen Ausgleich für Opfer
politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet. Die Kosten trägt die Rentenversicherung.
21.07.1998
Das Bundesverfassungsgericht bestätigt die Rechtmäßigkeit der Überführung von DDR-Zusatz- und
Sonderversorgungssystemen in die gesetzliche Rentenversicherung unter Wahrung der
verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie.
20.06.2002
Das Ghetto-Rentengesetz (ZRBG) tritt in Kraft. Es ermöglicht Rentenzahlungen für Arbeit in einem
Ghetto während der NS-Zeit. Die Finanzierung erfolgt aus Beitragsmitteln der Rentenversicherung.
27.02.2007
Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert die Grenzen gesetzgeberischer Eingriffe in bestehende
Rentenanwartschaften: Änderungen sind unter Beachtung des verfassungsrechtlichen
Vertrauensschutzes und der Eigentumsgarantie möglich.
31.01.2008
Das Bundessozialgericht spricht Frauen in berufsständischen Versorgungswerken einen Anspruch auf
Kindererziehungszeiten gegen die gesetzliche Rentenversicherung zu, sofern ihre Versorgungswerke
keine vergleichbaren Leistungen vorsehen.
20.07.2009
Das Bundesverfassungsgericht bestätigt die Verfassungsmäßigkeit der Finanzierung
gesamtgesellschaftlicher Aufgaben durch die Rentenversicherung, fordert aber eine angemessene
Beteiligung des Bundes an den Kosten.
01.07.2014
Das RV-Leistungsverbesserungsgesetz führt die "Mütterrente" ein. Die zusätzlichen
Kindererziehungszeiten werden nur teilweise aus Steuermitteln finanziert.
01.01.2019
Die "Mütterrente II" erweitert die Kindererziehungszeiten erneut. Die Mehrkosten von jährlich
3,8 Milliarden Euro werden überwiegend aus Beitragsmitteln finanziert.
01.01.2021
Der Bundeshaushalt übernimmt erstmals explizit ausgewiesene versicherungsfremde Leistungen in
Höhe von 2 Milliarden Euro zusätzlich zum allgemeinen Bundeszuschuss.
16.12.2021
Die neue Bundesregierung kündigt im Koalitionsvertrag an, die Finanzierung versicherungsfremder
Leistungen stärker aus Steuermitteln sicherzustellen. Der Deutschen Rentenversicherung wird mehr
Flexibilität bei der Kapitalanlage in Aussicht gestellt.
Versionen
Version 1.0.4 vom 22.12.2024 - Kleinere Korrekturen Version 1.0.0 vom 25.11.2024 - Erste Fassung
BLÜM, Norbert
Wenn der Billigste gewinnt. In der Sozialpolitik zählt Barmherzigkeit mittlerweile mehr als Gerechtigkeit. Deutschland ist auf dem Weg zum bloßen Fürsorgestaat.
In: Die Zeit 14/2005
vom 07.09.2006.
URL: https://www.zeit.de/2005/14/Essay_Bl_9fm/komplettansicht
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